![]() | Autoren: David Edmonds & John Eidinow Wie Bobby Fischer den Kalten Krieg gewann Die ungewöhnlichste Schachpartie aller Zeiten Aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel |
Herr Fischerle
ist ein buckliger Zwerg, ein Dieb und Schachfanatiker. Er lebt vom Geld seiner Frau als Prostituierten und träumt davon, Weltmeister Capablanca vernichtend zu schlagen. Er stellt sich mit den Worten vor: „Spielen Sie Schach? A Mensch, was ka Schach spielt, is ka Mensch.“ Fischerle hat ungewöhnlich lange Arme, und er erinnert sich an alle Partien, die er jemals spielte. Sein halbes Leben verbringt er am Schachbrett. Er wünscht sich, er könnte Essen und Schlafen erledigen, während der Gegner am Zug ist. Wäre Fischerle Weltmeister, würde er sich Maßanzüge schneidern lassen und in einem großen Palast mit echten Türmen und Rössern wohnen, und seinen Namen würde er ändern — in Fischer.
Fischerle ist eine Figur, die Elias Canetti 1935 im Roman Die Blendung beschrieb. Zwischen der grotesken Romanfigur und Robert James Fischer gibt es ein paar unheimliche Ähnlichkeiten: auch der wollte nach dem WM-Titel ein palastartiges Haus in der Form eines Schachturmes bauen lassen; Fischers lange Arme und die dünnen Finger wurden von Petrosjan plastisch beschrieben; in Reykjavik trug der Amerikaner stets extravagante Maßanzüge, und während des Festbanketts zu seinen Ehren vertiefte er sich in sein Taschenschach. Ein bemerkenswerter Vergleich — bei David Edmonds und John Eidinow kann sich der Leser auf einiges gefasst machen.
Zoff
Die beiden BBC-Journalisten wissen, was eine gute Story ausmacht: Wenn das Erhabene ins Lächerliche rutscht, wenn das Absurde real wird, und wenn es Zoff gibt. Keine primitive Schlägerei, mehr den subtilen Streit mit intellektuellen Fußtritten gegen des Kontrahenten Schienbein. Da darf schon mal der Schürhaken als Hilfsargument herhalten — wie weiland beim Disput der berühmten österreichischen Philosophen Wittgenstein und Popper im feinen akademischen Cambridge. Darüber schrieben Edmonds & Eidinow ihr erstes gemeinsames Buch:Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Schürhaken drohte (DVA 2001).
Nun hat sich das Duo den großen Schachzoff auf Island vorgenommen: Fischer gegen Spassky, USA gegen UdSSR, neurotischer Ami gegen charmanten Russen (sic!).
Wer meint, er kenne das Gezeter vom Sommer 1972 in Reykjavik schon, ist der beste Leser für das Buch: So wie man einen guten Film erst richtig genießt, wenn man ihn schon mehrmals gesehen hat und sich nun auf die Details konzentrieren kann, so verschlang ich die 430 Seiten, begleitet von Lachern, Seufzern und Kopfschütteln.
Edmonds und Eidinow waren fleißig, ihre Bibliographie im Anhang ist fünf Seiten lang. Sie forschten in Archiven und befragten Augenzeugen in den USA, Europa und Russland. Sie bekamen Akteneinsicht beim KGB und CIA, erhielten von der CIA schließlich ein 900-seitiges Dossier über Fisches Mutter Regina, ihren Ex-Mann Gerhard Fischer und den heranwachsenden Robert ausgehändigt (Auszüge im Buchanhang).
Damit das Ganze nicht zu dröge wirkt, inszenierten die Autoren das WM-Match ein wenig wie ein schrilles Theaterstück mit den Superstars Bobby & Boris: mal ist es billige Seifenoper, mal episches Drama. Zum besseren Durchblick werden alle wichtigen Personen am Buchanfang vorgestellt („Dramatis Personae“). Da gibt es Kleindarsteller, große Helden und Knallchargen, allein die Liste „Die Amerikaner“ zählt 21 Mitwirkende.
Biografien
Einige Buchabschnitte stimmen eher traurig, dort wird das Leben von Bobby und Boris erzählt. Spasskis Heimatstadt Leningrad wurde im Zweiten Weltkrieg 900 Tage von den Deutschen belagert und ausgehungert: „Kannibalismus war an der Tagesordnung, besonders begehrt waren Kinderleichen, weil das Fleisch zart war. Noch lange danach brachten es viele Leningrader nicht über sich, auf der Straße Fleischpasteten zu kaufen“ (S.56). Oder der verhaltensauffällige kleine Robert: Mutter Regina schleppte den 8-Jährigen in die Kinderpsychiatrie des Jüdischen Krankenhauses Brooklyn — wegen „Schachbesessenheit“. Zum Glück für alle Schachfreunde verweigerte Dr. Kline jede Therapie.
Die biografischen Abschnitte sind sehr gut, vor allem der über Spasski enthält viel Neues, auch sehr Persönliches, über seine harte Kindheit und Jugend, aber auch über Spasskis kritisches Verhältnis zum Sowjetstaat und zur Partei, denn Spasski verstand sich immer als „russischer Patriot“, nicht als sowjetischer. Seine Forderungen nach mehr Lohn und einer größeren Wohnung, sein Kampf gegen die staatliche Bevormundung — die Autoren schildern alles kenntnisreich und mit Fakten unterlegt. Sie hatten intensiv mit Boris Spasski gesprochen.
Das Buch wurde mit rund 30 Schwarz-Weiß-Fotos illustriert, Schachdiagramme oder Partienotationen gibt es nicht. Die wenigen rein schachlichen Abschnitte sind mäßig gelungen: Die beiden Übersetzer scheinen mit der Schachsprache nicht vertraut zu sein, sonst würden sie nicht die Damen „austauschen“. Und Petrosjan war nicht der einzige Weltmeister seit 1934, „der seinen Thron erfolgreich verteidigen konnte“, wie auf Seite 72 behauptet; auch Botwinnik gelang das 1951 gegen Bronstein. Missverständlich in der deutschen Ausgabe ist der Kommentar zum kritischen Moment in Fischers wohl berühmtester Partie (D. Byrne - Fischer, New York 1956), als der 13-jährige Bobby „den Angriff auf seine Königin übersah“. Sicher hatte er bemerkt, dass seine Dame hängt, als er spektakulär17..Le6!! zog. Weiter meinen die Autoren, dass „[...] Fischer keine vernünftige Alternative zu Le6 blieb, da jeder andere Zug zu seiner Niederlage geführt hätte“ (S.22). So klar ist die Stellung nicht, z.B. nach17...Lxf3 18.Lxb6 axb6 19.Dxc3 Lxd1 20.Dd2 Lg4 21.Lxf7+ Kxf7 22.Df4+ Lf6 23.Dxg4 Kxa2 steht Schwarz mindestens gleich. Wer sich für Bobbys Manöver auf dem Brett interessiert, kauft besser eine klassische Partiensammlung.
Beim Lesen von Edmonds & Eidinow wird deutlich, dass Fischers Leben und Verhalten seit seiner Kindheit geprägt wurde von drei Wesenszügen: 1) seiner Schachbesessenheit, die für keine anderen Interessen Platz ließ, auch nicht für menschliche Bindungen, 2) seinem Misstrauen, und 3) seinem Willen, kompromisslos durchzusetzen, was er für richtig hielt.
Spiele
Die Autoren zeigen eindrucksvoll, wie leicht es Fischers immer wieder gelang, die Menschen in seiner Umgebung nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Warum ließen sich alle Beteiligten das gefallen, von den Schiedsrichtern bis zu den Gegnern, vom kleinen Turnierleiter bis zur Großmacht Sowjetunion? Edmonds & Eidinow untersuchen das Phänomen im Kapitel 14 anhand von Erkenntnissen aus der Spieltheorie. [Die Spieltheorie analysiert strategisches Denken. Über mathematische Formulierungen wird versucht, das rationale Entscheidungsverhalten in Konfliktsituationen abzuleiten, in denen der Erfolg des Einzelnen nicht nur vom eigenen Handeln abhängt, sondern auch von den Aktionen anderer.]
Die Autoren kommen zum Ergebnis, dass Fischer neben Schach auch das Spiel „Hasenfuß-Rennen“ virtuos beherrschte. Der Name stammt vom FilmklassikerDenn sie wissen nicht was sie tun (1955), darin muss der jugendliche Held (gespielt von James Dean) ein selbstmörderisches Autorennen gewinnen, will er kein „Hasenfuß“ sein.
Eine Variante des Spiels geht so: Zwei Autos rasen aufeinander zu — wer zuerst die Kollisionslinie verlässt, hat verloren. Wenn nun der Herausforderer angetrunken ist (oder sogar verrückt), und das seinen Gegner vorher merken lässt, und wenn der Angetrunkene (oder Verrückte) glaubhaft macht, dass er gewinnen will, auch wenn er dabei umkommt, dann wird er auch gewinnen. Denn seine (vernünftigen) Gegner werden entweder kneifen, und wenn sie fahren, werden sie rechtzeitig ausweichen.
Fischer spielte im Prinzip genau dieses Spiel: Immer drohte er mit ernsten Konsequenzen (=Kollision), wenn seine „kleinen“ Bedingungen (=Ausweichen) nicht erfüllt würden. Die Gegenseite wich fast immer aus, gab also nach. Kaum war eine Forderung erfüllt, folgte die nächste.
Fischer drohte entweder mit seinem Fernbleiben, und wenn er da war mit Abreise. Und seine Drohungen waren glaubhaft! Tatsächlich blieb er oft weg wenn ihm etwas nicht passte, oder er reiste vorzeitig ab. So geschehen beim IZT Sousse 1967, obwohl er 8,5 aus 10 führte. Zudem galt Robert Fischer als etwas verrückt — ihm war alles zuzutrauen!
Beim folgenden IZT 1970 in Palma fragte der Brite Harry Golombek rhetorisch, wie dem Veranstalter das Wunder gelungen sei, Fischer zum Spielen des ganzen Turniers zu bewegen? Seine Antwort: Fischer wurden alle Wünsche erfüllt.
Einer der wenigen, die „nein“ sagten zu Bobby, war ausgerechnet Fidel Castro: es ging um ein Turnier in Havanna. Souverän und etwas spöttisch lehnte Castro per Telegramm alle Forderungen ab — und Fischer spielte.
Edmonds und Eidinow urteilen hart über die WM 1972: Vor allem die Verlegung des Spielortes zur 3. Runde ins Hinterzimmer, wie von Fischer verlangt, hätte nicht geschehen dürfen. Das war die Kapitulation vor dem Herausforderer, eine moralische Tragödie. Versagt haben Schiedsrichter Lothar Schmidt, die Offiziellen der FIDE und die russische Delegation, Spasski eingeschlossen.
In Reykjavik wurde es Fischer besonders leicht gemacht: Das kleine Land hatte viel Geld in die WM-Vorbereitungen investiert, nun schaute alle Welt auf Island, dessen Ansehen stand auf dem Spiel. Fischer konnte schadlos auf Kollisionskurs bleiben.
Die Autoren mutmaßen: Hätte die WM zum Beispiel in Paris stattgefunden, hätte sich der Amerikaner nicht soviel erlauben dürfen. Das Match wäre dann anders verlaufen, Spasski wäre vielleicht Weltmeister geblieben.
Fazit
Spannend geschriebene Zeit- und Schachgeschichte. Sehr lesenswert.
© Dr. Erik Rausch
Rochade Europa 7/2005